Die Chormusik von Charles Villiers Stanford Drucken

„O praise the Lord of heaven“

Als Akademiker erlangte er höchste Weihen, als Komponist blieb ihm die Anerkennung zuweilen versagt. Der Ire Charles Villiers Stanford (1852-1924) machte in England Karriere als Gelehrter und Dirigent, brachte aber seine Opern teilweise in Deutschland zur Uraufführung und eiferte in der Sinfonik seinem Idol Brahms nach. Seine Leidenschaft für die Musik widmete er auch dem Chorgesang – kein Wunder, denn er betrachtete England als das „Land, welches beim Chorgesang konkurrenzlos ist“.

Anspruch und Ziele
Den Anforderungen von Charles Villiers Stanford gerecht zu werden, war nicht einfach. Immerhin lehrte er von 1883 bis 1924 am Royal College of Music in London und von 1887 ebenfalls bis zu seinem Tode an der Universität Cambridge. Musik musste für ihn hohen künstlerischen und ethischen Ansprüchen gerecht werden. „Ich erlaube mir, Begriffe wie ‚heiter und ansprechend‘ durch ‚oberflächlich und überspannt‘ zu ersetzen“, meinte er.

Als große Vorbilder galten ihm vor allem die Komponisten der elisabethanischen Ära. „Männer wie Tallis, Byrd, Gibbons, Farrant, und, der größte von allen, Henry Purcell”, so der Protestant Stanford, „nehmen in der englischen Kirche die gleiche Stellung ein wie Heinrich Schütz und die Bachs in der Lutherischen.“ Dementsprechend verwundert es nicht, dass er bei seinen Vokalwerken zuweilen auf älteste kirchenmusikalische Traditionen zurückgriff. Dies zeigt sich etwa bei einem A-capella-Chor in der Kantate „Eden“, der nicht mehr nach Mendelssohnscher Manier gestaltet ist, sondern ein neo-renaissanceartiges sogenanntes „Madrigale spirituale“ darstellt. Aber auch in weltlichen Stücken wie den „Elizabethan Pastorals for chorus“, op. 49, 53 und 64, erweist er der Tradition seine Reverenz. In Stanfords reichhaltigem Œuvre finden sich der Zeit entsprechend facettenreiche Werke von einer pompösen „Welcome Ode“ für 300 Stimmen bis hin zu subtilen Vokalstücken ohne Instrumentalbegleitung.

Balladen und Kantaten
Von 1901 bis 1910 leitete Stanford das von Sullivan geprägte Musikfestival in Leeds. Hier brachte er schon während der Ägide seines Vorgängers einige seiner Chorballaden heraus. Bei diesen Werken sind die interpretatorischen Fähigkeiten der Sängerinnen und Sänger besonders gefordert. Chorballaden bieten etwa zehn- bis dreißigminütige Stücke, die seinerzeit auch für kleinere Gesangsvereinigungen gedacht waren. Die Textgrundlage bildeten zumeist beliebte Gedichte und Balladen, die für die Vertonung in Nummern oder Szenen gegliedert, mitunter aber auch durchkomponiert wurden. Vornehmlich nahmen sich viele wenig bekannte Komponisten dieser Gattung an, doch auch einige namhafte Künstler steuerten gewichtige Werke bei. Trotz des hohen musikalischen Anspruchs sind die Chorballaden zumeist verhältnismäßig einfach gehalten. In gewisser Weise spiegeln sie das Themenspektrum wider, das seinerzeit auch die Oper prägte. Verglichen mit Elgars „The Black Knight“ (nach Uhland) spielt das Orchester eine weniger tragende Rolle bei Stanfords „The Revenge“, op. 24 (1886) und „The Voyage of Maeldune”, op. 34 (1889, beide nach Tennyson). Es handelt sich um Erzählungen von Mut, Kampf, Schuld und Vergeltung: Die eine schildert das letzte Gefecht der „Revenge“, dem Flaggschiff von Vizeadmiral Richard Grenville, die im September 1591 nach Schlacht und Sturm in den Fluten der Azoren versank; die andere die irische Legende von Máel Dúin, der den Mord an seinem Vater rächen will. Die Chorballade „The Battle of the Baltic“, op. 41 (1891 nach Thomas Campbell), berichtet vom Kampf der Briten gegen die Dänen Anfang des 19. Jahrhunderts.

Weniger anspruchsvoll ist die Chorbeteiligung bei zwei von Stanfords populärsten Werken: den 1904 entstandenen, robusten fünf „Songs of the Sea“ für Bariton, Männerchor und Orchester, op. 91, denen 1910 die „Songs of the Sea“ für Bariton, gemischten Chor und Orchester, op. 117, folgten. Seinen hohen ethischen Ansprüchen tat Stanford mit der „Elegiac Ode“, op. 21 (1884), Genüge, für die er sich Walt Whitmans 1865 entstandener Verse „When lilacs last in the dooryard bloom’d“ annahm, mit denen der Dichter den Tod von Präsident Lincoln beklagte. Das vierteilige Werk mit seiner feinsinnigen Ausgestaltung des Textes kann man durchaus als Vorläufer für Oden wie Parrys „Blest Pair of Sirens“ (1887, nach Milton) und Vaughan Williams’ „Toward the Unknown Region“ (1907, ebenfalls nach Whitman) betrachten.

Seine beiden umfangreichsten Werke für Solisten, Chor und Orchester – „Three Holy Children“, op. 22 (1885), und „Eden“, op. 40 (1891) – brachte Stanford bei den Musikfestspielen in Birmingham heraus. Das Oratorium „Three Holy Children“ basiert auf der Geschichte aus dem dritten Kapitel des Buches Daniel von den drei Jünglingen, die König Nebukadnezar in einen glühenden Ofen werfen lässt, weil sie sich weigern, seinen Göttern zu huldigen. Stanford reicherte die Geschichte noch um Verse aus den Psalmen an und rundete das Ganze mit einer verkürzten Version des „Benedicite“ ab. „Die Kontraste“, so Stanford, „ergeben sich durch das jüdische Element aus den Psalmen und den Talmiglanz der Assyrer.“

Thumbnail imageBei „Eden“ handelt es sich – ähnlich wie bei Elgars „The Dream of Gerontius“ – nicht um ein Oratorium im eigentlichen Sinne, weil keine Texte aus der Bibel verwendet werden. Stanfords „Eden“ basiert auf einer von Miltons „Paradise Lost“ ausgehenden Dichtung von Robert Bridges. Diese erzählt die allegorische Geschichte vom Kampf der Kräfte des Guten gegen das Böse, die Adam und Eva beeinflussen wollen. Während in „Gerontius“ die Dämonen nur kurzfristig in Erscheinung treten, nehmen in „Eden“ Satan und seine Helfershelfer breiten Raum ein. Im Orchestervorspiel von „Eden“ werden zwei gregorianische Melodien verarbeitet, welche die Hauptmotive für das ganze Stück bilden. Hatte Stanford Elgar bei „Gerontius“ noch vorgeworfen, dass alles „nach Weihrauch stinkt“, so schrieb er mit „Eden“ ein von der zeitgenössischen deutschen Schule geprägtes Werk, das auch opernhafte Elemente integriert: Das Geschehen im ersten Teil ist in drei sogenannte „Akte“ (überschrieben mit „Himmel“, „Hölle“ bzw. „Erde“) eingeteilt, denen ein zweiter Teil mit Adams Visionen von Krieg und Plagen, aber auch seiner Vision des Guten in der Welt folgt. Zudem nutzt Stanford bühnenreife dramaturgische Effekte, als er gegen Schluss des 2. Akts, wenn die Teufel Satan huldigen, die Unholde mit dem aus einem zwölfköpfigen Semi-Chorus gebildeten Engelschor aus dem 1. Akt mit „God of Might! God of Love! God of Light!“ unterbricht. Dadurch ergibt sich eine Kontrastwirkung wie beispielsweise mit der Stimme vom Himmel am Ende der Autodafé-Szene in Verdis Oper „Don Carlo“. Stanford erzielte in diesem komplexen, am umfangreichsten besetzten seiner Werke dennoch nicht die dramaturgische Geschlossenheit Sullivans und Elgars in ihren führenden Kompositionen für Chor und Orchester. Wie die Erfolge des Professors mitunter zustande kamen, beschrieb George Bernard Shaw 1891 humorvoll in seinen Anmerkungen zu Stanfords „Eden“: „Wer bin ich, dass man von mir annimmt, gewichtige Musiker zu verunglimpfen? Wenn Sie daran zweifeln, dass ‚Eden‘ ein Meisterwerk ist, fragen Sie Dr. Parry und Dr. Mackenzie, und sie werden es in den Himmel heben. Sicherlich ist Dr. Mackenzies Meinung schlüssig, ist er denn nicht der Komponist von ‚Veni Creator‘, von dem uns Professor Stanford und Dr. Parry versichern, dass es exzellente Musik ist? Sie möchten wissen, wer Parry ist? Natürlich der Komponist von ‚Blest Pair of Sirens‘, zu dessen Verdienste Sie nur Dr. Mackenzie und Dr. Stanford befragen müssen.“

Stabat Mater, Te Deum und Requiem
In sakralen Werken verwendete Stanford sowohl englische als auch lateinische Texte. Dies geht indes mehr auf den traditionellen Ursprung der Vorlagen zurück und weniger auf einen katholischen Einfluss. Obwohl in Irland geboren, stammte Stanford aus einer protestantischen Familie des gehobenen Mittelstands. Einige seiner sakralen Kompositionen finden sich noch im Repertoire der Anglikanischen Kirche.

Zu den substantiellsten Sakralwerken mit einer Dauer von 50 bis 80 Minuten gehören das Requiem, op. 63 (1896), das Te Deum, op. 66 (1898), und das Stabat Mater, op. 96 (1906) für Solisten, Chor und Orchester. Das Requiem entstand anlässlich des Todes des befreundeten Malers Frederic Leighton. Stanford fühlte sich dessen Idealen und seiner intensiven Farbgebung verbunden. Sowohl in der Malerei als auch der Musik sei eine „Meisterschaft bei der Behandlung der Farben eine absolute Notwendigkeit“, schrieb Standford 1922 in einem seiner Bücher, wobei der Künstler „nicht darüber nachdenkt, wie er seine Farben mischt oder seine Effekte hervorruft“. „Bei den Klangfarben verhält es sich ebenso“, betonte Stanford. „Hat man die Technik des Instrumentierens erst einmal gründlich gelernt, kommen die Farben von selbst.“ Danach gehe es hauptsächlich nicht um Fragen von „richtig oder falsch“, sondern „Schönheit und Abscheulichkeit“. Im Requiem zeigt sich Stanfords Gespür für Ausdruck und Stimmen, indem er sich einer reichhaltigen Klangfarbenpalette bedient. Er nutzte das emotionale Potenzial des Requiemtextes und gestaltete ein packendes Wechselspiel von opernhaften Soloparts und vielfach homophonen Chorpassagen. Im Zentrum des siebenteiligen Werks steht das theatralisch gestaltete „Dies irae“, dem aber auch das trauermarschartige „Agnus Dei“ und das „Lux Aeterna“ nicht nachstehen. „Hört man dieses neue Werk, so könnte man denken, dass er sein ganzes Leben lang nur Kirchenmusik für die sensiblen und leidenschaftlichen Katholiken komponiert hätte“, lästerte der Rezensent der „Musical Times“ nach der Uraufführung, musste Stanford aber doch zugestehen: „Sicherlich ist das Requiem aufrichtig, sonst würde es nicht überzeugen.“

Mit seinem Opus 66, dem fast einstündigen Te Deum, gelang Stanford eine einfühlsame Ausgestaltung des traditionellen Lob-, Dank- und Bittgesangs. Das Stabat Mater charakterisierte der Ire als „Symphonic Cantata“ und dementsprechend fällt dem Orchesterpart eine tragende Rolle zu. Von den fünf Abschnitten sind das Präludium und das Intermezzo rein instrumental gehalten. Stanfords Interpretation des mittelalterlichen Gedichts, das den Schmerz der Mutter Maria um den gekreuzigten Sohn thematisiert, gehört vor allem durch seine eindringlichen Chorpassagen wie bei „Pertransivit gladius“ und „Virgo virginum praeclara“ zu seinen fesselndsten Kompositionen.

Thumbnail imageMessen und Sakralmusik
Der Kirche kam für Stanford eine entscheidende Bedeutung im Musikleben zu. „Von allen Künsten steht ihr die Kirche jeden Tag am nächsten, denn sie ist nicht wegen des monetären Ertrags auf sie angewiesen“, notierte er. „In Bezug auf Musik meine ich, dass es nicht nur möglich, sondern sogar unerlässlich erscheint, dass die Kirche ihre Mitglieder unterweist, weiterentwickelt und vervollkommnet. Sie sollte als Repräsentant des guten Geschmacks voranschreiten und nicht hinterherhinken. Sie sollte sich kompromisslos nur das Beste zu eigen machen, unabhängig davon, ob es Zuspruch findet, und dem Zweitklassigen aus dem Wege gehen, selbst wenn es vorübergehend anziehend erscheinen mag.“ Mit seinen Messevertonungen, insbesondere den zwischen 1879 und 1909 entstandenen fünf „Morning and Evening Services“ bereicherte Stanford das Ausdrucksspektrum der englischen Kirchenmusik. Nicht minder ansprechend sind seine Versionen des 150. Psalms, „O praise the Lod of heaven“, oder des Magnificats. Stanfords Kompromisslosigkeit zeigt sich auch an den kurzen, mit der Orgel begleiteten Anthems wie „And I saw another angel“ (1885) oder „If thou shalt confess“ (1889). Alle Werke dieser Art brauchen einen nuancierten Ausdruck und einen geduldigen Chorleiter. Stanford, der ohnehin als jähzornig galt, war dies nicht und entpuppte sich dabei sogar als wahrer Kinderschreck. „Sir Charles besaß ein höchst unbändiges Temperament und wenn die Chorknaben ihn nicht zufriedenstellten, fing er an zu toben und schrie sie an bis sie so eingeschüchtert waren, dass sie überhaupt nicht mehr singen konnten“, erinnerte sich ein Kollege vom Trinity College in Cambridge. Bedauerlich, denn Werke wie „God is our hope and strength“ (46. Psalm, 1877), „I heard a voice from heaven“ (1886) oder „The lord is my shepherd“ (23. Psalm, 1886) gehören mit ihrer ausdrucksstarken Melodik und den unregelmäßigen, einander überlappenden Phrasen zu den eindringlichsten Beispielen von Stanfords Sakralmusik.

Part-Songs und Motetten
Insbesondere bei den kurzen Formen finden sich die imponierendsten Beispiele für Stanfords Chorschaffen. Hierzu gehören auch seine Part-Songs und weltliche Stücke mit religiösen Themen, beispielsweise „Awake, my heart“ (nach Klopstock in der Übersetzung von H.F. Wilson, 1881) oder die Motette „O living will that shalt endure“ (nach Tennyson, 1908). Die „schwebende“ Harmonik von „The Blue Bird“ gehört zu den sensibelsten Effekten bei den „Acht Part-Songs“, op. 119 (1910 auf Texte von Mary Elizabeth Coleridge). Doch auch in Sammlungen wie den „Vier Part-Songs”, op. 110 (nach W.J. Cory, 1908), den „Drei Part-Songs”, op. 111 (nach May Byron, 1908) und den „Acht Part-Songs“, op. 127 (1912 abermals nach Mary Elizabeth Coleridge), finden sich Perlen wie „The haven“ oder „A Lover’s Ditty”.

Begriffe wie „dignity“ (Würde) und „serious“ (ernsthaft) spielen in Stanfords Schriften eine auffallende Rolle und haben dementsprechend auch Bedeutung für seine Musik. Den Iren erschien Stanford jedoch als zu britisch, bei den Engländern galt er als zu irisch und allen zusammen als zu deutsch. Für die Qualität von seiner Kompositionen waren die unterschiedlichen Einflüsse indes keineswegs immer von Nachteil. Gerade in den Vertonungen für das nach seinen Worten „individuellste aller Instrumente, die menschliche Stimme“, gelangen Stanford einige seiner persönlichsten Werke.

Weblinks
The Stanford Society - eine englische Gesellschaft, die sich für Charles Villiers Stanfords Werk engagiert. 

Beim „International Music Score Library Project“ finden sich etliche Partituren und Klavierauszüge zum kostenlosen Herunterladen.

Diese Internet-Bibliothek („Internet Archive is a non-profit library“) bietet unter anderem Noten und Buchpublikationen von Charles Villiers Stanford.

Buchtipps

  • Jeremy Dibble: Charles Villiers Stanford: Man and Musician, Oxford University Press 2002 (ISBN 0-19-816383-5)
  • Paul Rodmell: Charles Villiers Stanford, Ashgate, Aldershot 2002 (ISBN 1-85928-198-2)

Bücher von Stanford

  • Charles Villiers Stanford: Studies and Memories, London 1908.
  • Charles Villiers Stanford: Musical Composition. A Short Treatise for Students, New York 1911.
  • Charles Villiers Stanford: Pages from an Unwritten Diary, London 1914.
  • Charles Villiers Stanford: Interludes. Records and Reflections, London 1922.

Meinhard Saremba
20.11.2017