capella vocalis präsentiert „Vater unser“ als Uraufführung: „our_vater_noster“ Drucken

Auftragswerk des künstlerischen Leiters Christian J. Bonath

Thumbnail imageRenommiert und klingend ist der Name des Reutlinger Knabenchores capella vocalis weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Vielfach prämiert im In- und Ausland, sind es vor allem die vitalen Aufführungen von „Alter Musik“, die dem Spitzenensemble unter seinem Leiter Christian Bonath höchste Anerkennung verschaffen.

Dass der Chor aber auch neugierig ist, Zeitgenössisches zu entdecken, beweist die Reihe „music of our time“. 2014 ins Leben gerufen, vergibt der Chor jährlich einen Kompositionsauftrag für eine zeitgenössische Tondichtung für Chor, Solo und Instrumentalisten. „Mir ist es sehr wichtig, unseren jungen Sängern abseits der Popkultur einen Weg zur heutigen Musik zu ebnen“, so Bonath. „Musik aus unserer Zeit soll für die Jungs greifbar werden, daher habe ich eine Reihe konzipiert, mit welcher der Chor in jeder Spielzeit eine Uraufführung präsentiert“.

So steht in diesem Jahr am 24. September in der Reutlinger Christuskirche das Werk „our_vater_noster“ auf dem Programm. Autor ist diesmal mit Christian J. Bonath der künstlerische Leiter des Reutlinger Ensembles: „Ich freue mich sehr, für meinen Chor, den ich seit 2012 leite, etwas schreiben zu dürfen.“ Nach Linguae (Pfingstoratorium 2014) und der „Gryphius-Kantate“ (2015) steht 2016 das Vater unser im Mittelpunkt, ein Text, der als weltweites Kulturerbe auch über konfessionelle und ethnische Grenzen hinweg Menschen miteinander verbindet.

Als Textgrundlage dient der Choral „Vater unser im Himmelreich“ aus der Feder von Martin Luther. Dieser wird verbunden und kommentiert von Gedichten des Lyrikers Rainer Maria Rilke.
In 18 Sätzen werden die sieben Bitten des „Vater unser“ ausgedeutet, verfremdete Choralzitate bilden die Brücken zwischen den Sätzen. Auf den Prolog nach Worten von Rilke, der mit im Raum verteilten Solisten – drei als symbolhafte Ausdeutung – auf Raumklang ausgelegt ist, folgt der Choral „Vater unser im Himmelreich“ aus der Feder von Martin Luther. Dieser wird textlich zitiert, das Werk eröffnend und als Klammer abschließend mit der ersten und der letzten Strophe, versehen mit neuer Musik. Jener „neue Choral“ lässt sich ad libitum mit einem zweiten cantus firmus verbinden und in eine doppelchörige Struktur steigern. Harmonisch gesehen steht er auf den Füßen der Tonalität, arbeitet mit vielen Sextakkorden, die klanglich durch Sexten, Septen und Nonen sowie Doppelterzen angereichert werden.
Es folgt das Interludium I mit der Vorstellung und Überlagerung der Hauptmotive des gesamten Werkes. Das Duett (II) und nachfolgender Chor (IV) widmen sich der Anrufung Gottes in verschiedenen Sprachen. Nr. IV ist dabei als größeres Chorstück in A-B-A Form angelegt. Der sehr melodisch gestaltete Sopran wird vom Unterchor begleitet, im B-Teil stehen sich nach mehrchöriger Tradition Unter- und Oberstimmensatz gegenüber. Das Arioso (VI) kommentiert mit dem als Solist besetzen Altus die Luther-Bitte „komm dein Reich“ mit den Worten Rilkes: „Mit meinem Reife reift dein Reich“.
Als klangliche Brücke, die zwischen den Sätzen unter dem Titel „Zitat“ verwendet werden, fungiert die erste Zeile des Lutherchorals. Das melodische Material bilden die ersten fünf Töne der Moll-Tonleiter, die als Kollage in verschiedenen Techniken verarbeitet wird. Der Chor VIII, ein Tanzsatz im 7/4 Takt – jener Takt findet sich zentral im gesamten Werke und reüssiert auf die sieben Bitten des Vater unser – steht im Zentrum des Werkes. Die Bitte nach Brot, wird mit der Sehnsucht Rilkes nach  dem „leisen zweiten, jetzt brauch ich dich wie Brot“ verbunden. An die nächste Klangbrücke schließt das Duett (X) an, die Duettform als Zwiegespräch zwischen Gott und dem Menschen über die Vergebung. Das kurze Arioso mit Sprecher, Sopran und Knabenchor lässt das (Gott-)Vertrauen reifen, bevor der Männerchor im nächsten Zitat erstmals das „Luthermaterial“ verlässt. In einem Krebskanon für den Männerchor bittet der Mensch um Erlösung, ausgedrückt in Bitonalität und Polyrhythmik.
Das Interludium II widmet sich dem Rhythmuspattern der Nr. VIII und kombiniert sie mit dem Motiv des nächsten Chores (XIII). Der Epilog schließt den Kreis und zitiert das im Prolog begonnene Rilke-Gedicht zu Ende: „Jetzt geht dein Wachsen über mich hinaus“. Das Klavier versinnbildlicht die Aussage und steigt bis zu seiner Ambitusgrenze empor, bevor der Chor als Conclusio die letzte Strophe des Chorals „Vater unser im Himmelreich“ skandiert.

Das Werk ist für Knabensolisten, Altus, Sprecher, Chor, zwei Orgeln, Klavier und Schlagwerk konzipiert und bietet neben großen Chören auch Arien und freie Formen.

Bonaths Musik vereint dabei Momente der „Konsens-Harmonik“ mit Elementen der „Minimal-Musik“ unter Verwendung zahlreicher alter Techniken. „Es ist eine spannende Tonsprache, gut anzuhören – Neue Musik, die Lust macht, sich mit ihr hörend auseinanderzusetzen“ führt Bonath weiter aus. Solisten, Chor und Instrumente sind dabei auf den Raum verteilt und beziehen so den Raum mit in die Musik ein.

Für die nächsten drei Spielzeiten stehen die Komponisten der Uraufführungen bereits fest. „Auch hier dürfen wir uns auf sehr namhafte Tonsetzer freuen, die sich für capella vocalis Innovatives einfallen lassen werden.“ Mehr möchte Bonath aber jetzt noch nicht verraten, liegt doch gegenwärtig die ganze Konzentration auf dem Projekt „our_vater_noster“.

Informationen: Christian J. Bonath „our_vater_noster“ (UA) | 24.09.2016, 19 Uhr | Christuskirche Reutlingen | capella vocalis | Leitung: Christian J. Bonath

Christian J. Bonath, capella vocalis
22.09.2016