50 Jahre Frieder Bernius und Kammerchor Stuttgart Drucken

Kompromisslos authentisch

Thumbnail image1968 gründete ein Stuttgarter Musikstudent, 20-jähriger Pfarrersohn und aus Ludwigshafen am Rhein stammend, den Kammerchor Stuttgart. Frieder Bernius war und ist der Neuen Musik zugeneigt, kein Pionier, sondern ein später Berufener der historischen Aufführungspraxis. Zugleich fielen die Gründerjahre des Kammerchors in die Ära der deutschen Chorhauptstadt, als welche sich Stuttgart rühmte.

Bernius, reflektiert in der Theorie und perfektionistisch in der Praxis, hat nicht einfach einen weiteren Chor gegründet. Gottwald und sein Ensemble mögen ihm – zum Beispiel dank der Aufführung von Ligetis A-cappella-Werk Lux aeterna – nahegestanden haben, der Name Kammerchor fürs eigene Projekt weist obendrein auf das Ziel, zu welchem er sich auf den Weg machte: die Professionalisierung des Chorgesangs – und zwar nicht nur in der Neuen Musik, wo sie sich zwangsläufig durch Überforderung auch der fähigsten Laiensängerinnen und -sänger herausgebildet hatte. Sondern auch in jenen Domänen, die in Deutschland kraft eines wohl tatsächlich ideologischen Vorbehalts von sangesfreudigen Hundertschaften besetzt blieben: Chorgesang hatte, resultierend aus den geselligen und bisweilen politischen Prägungen in der frühen Romantik, stets auch Gemeinschaftserlebnis zu sein, musikalisch wie auch immer ambitioniert, aber im Unterschied zum orchestralen Spezialistentum keine exklusive musikalische Leistung von Berufskünstlern. Vielmehr waren die chorsingenden Interpreten zugleich ihre ersten Rezipienten. Außerhalb der Rundfunk-Anstalten und – mit Abstrichen – der Opernhäuser hatte das Profi-Chorwesen in Deutschland nicht nur aus finanziellen Gründen ein Legitimationsproblem und eine Art Dringlichkeitsdefizit. Vorbilder fanden sich eher im Ausland, etwa in Stockholm mit Eric Ericsons Kammerchor oder in England mit den BBC Singers.

Vor diesem Hintergrund gehört die Gründung des Kammerchors Stuttgart zu einem Paradigmenwechsel, der Bernius – wie die gesamte internationale Szene – ab den späten 70er-Jahren konsequent zur historischen Aufführungspraxis führte. Präziser in der Begriffskonfusion um „historisch“, „historisch informiert“, „Originalklang“ und so weiter wäre in Bernius‘ Fall freilich das Wort „authentisch“, denn im Hortus conclusus irgendeiner „Alten Musik“ hat er sich nie verschanzt, wohl aber strebt er mit ingeniöser Klarsicht nach größtmöglicher Authentizität in der Interpretation von alten wie neuen Werken, jüngst etwa mit einer grandiosen Live-Einspielung von György Ligetis Requiem und Lux aeterna, die wie keine vor ihr das musikalische Potenzial, die luminose Binnenbewegung, die gespannte Expressivität der Werke bis in die mikroskopische Fiber erleuchtet.

Dabei arbeitet er mit einer im Laufe der Zeit tendenziell immer schlankeren, freilich stets werkgemäßen Chorbesetzung: nicht aus den auch ihm bekannten Sparzwängen – bevor er sich zu einer qualitativen oder quantitativen Schrumpf-Performance genötigt sieht, lässt er’s lieber ganz bleiben –, sondern aus interpretatorischer Einsicht und Überzeugung.

Vielmehr wahrt Bernius keinem anderen als Adorno die Treue: „Die wahre Interpretation ist die Röntgenphotographie des Werks. Ihr obliegt, im sinnlichen Phänomen die Totalität all der Charaktere und Zusammenhänge hervortreten zu lassen, welche Erkenntnis aus der Versenkung in den Notentext sich erarbeitet.“ Diese Sätze aus „Bach gegen seine Liebhaber verteidigt“ sind eine wunderbare Charakterisierung von Bernius‘ Interpretationsideal – nur eben mit der schönen dialektischen Volte, die dem musikphilosophischen Meisterdenker eigentlich hätte gefallen müssen, dass es genau jene Mittel einsetzt, die dieser verpönte: Originalinstrumente bei älterer Musik und angemessen transparente Chorbesetzung – ohne Masse als Macht, aber mit keineswegs „dünnem“ Klang. Affektgenau statt affektiert folgt dieser Klang dem notierten Stimmengeflecht und seinem expressiven Wesensgehalt, die musikalischen Gesten und Figuren in klarer und wohlproportionierter Plastizität modellierend, eloquent im Ausdruck und zugleich balanciert wie subtilste Kammermusik. Die sonoren Qualitäten leiten sich zum einen aus der Elastizität der Dynamik ab. Kraft entsteht nicht aus einem dröhnenden Draufsatteln von Phonzahlen, sondern aus der Intensität der Tongebung vom substanzvollen, dichten Piano bis zu runder Fülle. Zum anderen versteht sich, dass solche Klangkultur den Katechismus der Chor-Tugenden – Intonationsgenauigkeit, Homogenität, schlackenlose Reinheit des Tons, Durchhörbarkeit und Klarheit der musikalischen Linien – makellos zu beherzigen weiß. Hinzu kommt eine natürlich anmutende, organisch atmende Phrasierung, damit verbunden eine bei aller deklamatorischen Prägnanz niemals ins klappernde Skandieren verfallende, sondern am Obertonspektrum der zu singenden Vokale ausgerichtete Formung des Klangbilds: Vokalmusik in zweiter Potenz, sozusagen.

Mit alldem stieg der Kammerchor Stuttgart zur Weltspitze des Chorgesangs auf. Und er wahrt die Alleinstellung seines charakteristischen Tons gerade durch eine scheinbare Paradoxie: eben nicht als festes Ensemble, sondern als Projektchor. Nur Frieder Bernius bleibt immer derselbe und sorgt für die klangliche Identität: bei vergleichbaren instrumentalen oder vokalen Ensembles wechseln also beim Kammerchor Stuttgart Besetzung und Zusammensetzung, freilich mit regelmäßig wiederkehrenden Stimmen, aber orientiert an den Anforderungen von Werk und Epoche. Selbstverständlich wird auch der allmähliche, aber stetige Generationenwechsel bedacht – das Durchschnittsalter des Kammerchors dürfte sich seit seiner Gründung in einem relativ engen Bereich bewegen –, und zweifellos säumen bisweilen die menschlichen Härten des Freelancertums den Weg der musikalischen Kompromisslosigkeit. Aufzuräumen aber gilt es mit dem Klischee, nur ein „festes“ und daher auf sich „eingespieltes“ beziehungsweise „eingesungenes“ Ensemble sei zu künstlerischen Spitzenleistungen fähig. Der Kammerchor Stuttgart erbringt den ohrenscheinlichen Gegenbeweis, weil sich gerade die Flexibilität einer wechselnden, aber handverlesenen Besetzung den Erkundungen von mehreren Jahrhunderten Musikgeschichte als gemäß erweist. Das populäre Hokuspokus einer quasi mystischen Einheit von familienhafter Musiziergemeinschaft und perfekter Interpretation löst sich in diesem Fall auf in der Professionalität der Akteure und der identitätsstiftenden Kompetenz des Dirigenten. So betrachtet ist der Kammerchor das „Instrument“ des Frieder Bernius, aber ein Instrument, das er sich selbst und je nach den musikalischen Erfordernissen baut – was die Leistung und die gestalterischen Impulse der Sängerinnen und Sänger nicht im mindesten schmälern soll. Schließlich produzieren sie die Töne.

Auf eines aber hat Bernius seinen Kammerchor nie getrimmt: auf das marktschreierische und oftmals nur vordergründige „Ganz anders“, wie es auch und gerade in der historischen Aufführungspraxis grassiert. Bloße Schock- und Sensationseffekte extremer Tempi, bizarrer Ausdrucksmanieren oder willkürlicher Besetzungsmaskeraden interessieren ihn nicht. Wenn seine Tempi extrem sind und die Ausdruckswirkungen bizarr, dann begründet aus der Analyse der Partitur und den fortgeschrittensten musikhistorischen Kenntnissen, hinter die zurückzufallen ihm als Unsinn erscheint: Die Rückkehr von der historischen zu einer nur noch historisch informierten Aufführungspraxis mit sogenannten modernen Klangkörpern, wie sie manche einstige Originalklang-Cracks mit fliegenden Fahnen vollziehen, ist ihm beinahe so fremd wie die Verwässerung originaler Klänge mit modischem Crossover. Eine Verwechslung seines Interpretationsstils mit philologischem Dogmatismus täte indes dem Vollblutmusiker Bernius hörbar Unrecht. Ihm geht es bei alldem um die Sache und ihre Sinnlichkeit: die Musik.

Das Beispiel Bach, dessen Werke Bernius mit dem Kammerchor regelmäßig aufführt, verstellt freilich eine andere Seite seines Projekts: die musikalische Archäologie. Als erster in Stuttgart hat er in den 70er-Jahren die Musik Monteverdis in einem umfassenden Zyklus vorgestellt. Später zählten er und der Kammerchor mit ihren bis heute Maßstäbe setzenden Schütz-Einspielungen zu jenen interpretatorischen Entdeckern, die im Werk des großen Komponisten die originalen Dimensionen der Expressivität und der Klangarchitektur wiederfanden – befreit von den Verzeichnungen und Verzwergungen durch die diversen Jugendmusik- und Chorbewegungen seit den 20er-Jahren.

Thumbnail imageBernius und sein Chor drangen weiter in verschüttete Regionen der Musikhistorie vor. Dem Dirigenten ist eine Skepsis gegenüber jener Meisterwerk-Ästhetik zu eigen, die nur auf den hohen Säulen des Repertoires, auf den ragenden Schultern der Bachs, Mozarts, Beethovens und so weiter hörenswerte Musik wähnt. Bernius‘ Musikauffassung ist von einem Korrespondenzdenken geprägt: Den Fixsternen am musikgeschichtlichen Firmament entsprechen im Schutt der Zeiten untergangenen Schätze, deren vielleicht nicht ganz so strahlendes, aber mit eigener Nuance leuchtendes Licht es wieder zur Sicht-, also Hörbarkeit zu heben gilt. Gerade in der Nuance, verstanden als feine, aber charakteristische Abweichung von der Norm, und in der Fähigkeit zu ihrer Wahrnehmung – äußern sich der musikalische Fortschritt, die Dynamik der Musikgeschichte oder auch die Besonderheit eines individuellen Tonfalls zumindest bis ins frühe 19. Jahrhundert mehr als in den vermeintlich zeitlosen, angeblich für sich selbst stehenden und daher kaum noch nuanciert wahrgenommenen Repertoire- und Meisterwerken. Einem derart auf Nuancen bedachten Interpreten wie Bernius konnte das nicht verborgen bleiben, und so wurde er zum Pionier der eigentlich evolutiven Zeiten der Musikhistorie, als Zwischenräume unterhalb der Epochengipfel versehen mit dem begrifflichen Stigma des Unausgereiften: der Frühklassik und der Frühromantik.

Bernius hat beispielsweise Opern Jommellis und Hasses ausgegraben, er hat sich – auch als Orchesterleiter von großem Format – halb oder ganz vergessener Musik des deutschen Südwestens angenommen (etwa von Justin Heinrich Knecht, Franz Danzi, Johann Rudolph Zumsteeg oder Johann Wenzel Kalliwoda), und er hat mit dem Kammerchor als zweit- oder drittrangig abgetane Komponisten der Romantik auf den Schild gebührenden Niveaus gehoben: etwa mit einer exzellenten Aufnahme Louis Spohrs Oratorium Die letzten Dinge oder – vor allem – die geistlichen Chorwerke Felix Mendelssohn Bartholdys. Ja, auch er gehört in diese Reihe, fand doch nur ein schmaler Teil seines Oeuvres – Sinfonisches, Konzertantes, etwas Kammermusik, ein paar Ouvertüren und vielleicht noch die großen Oratorien – Aufnahme in den allseits gebilligten Meisterwerk-Kanon. Bei seinen Kirchenwerken indes taten alte Vorurteile ihre nachhaltige Wirkung. Die Gesamteinspielung mit dem Kammerchor Stuttgart darf daher als Großtat gelten, als überfällige Befreiung vom Vorurteil des Süßlichen, Epigonalen, Uneigenständigen, tauglich allenfalls für bescheidene Kirchenchor-Praxis. In der wunderbar klaren, frischen und unverkrampft expressiven Interpretation des Kammerchors aber erscheint Mendelssohn als der, der er ist: einer der bedeutendsten Sakralkomponisten des 19. Jahrhunderts, der aus Historismus, Klassizismus und Romantik ein neues und originäres Idiom schöpfte. Ebenso vorzüglich eine weitere, dem weltlichen Chorwerk gewidmete Mendelssohn-Aufnahme: In den von allerlei Gesangvereinen malträtierten Liedern im Freien zu singen lassen Bernius und der Kammerchor tatsächlich eine neue Brise frischer Luft durch die betont schlichten vierstimmigen Sätze wehen scheint. Sie bläst den Mief von sentimentaler Geselligkeit aus Feld, Wald und Wiese, aus Tälern weit und Höhen. Wachen Ohres für die vertonte Lyrik und zugleich völlig ungekünstelt wird hier die inspirierte Schönheit dieser Chorlieder zum Leben erweckt: höchste Kunst im scheinbar Einfachen.

Eine weitere Komponisten-Ehrenrettung gelang mit Jan Dismas Zelenka. Wurde der Böhme in Dresden einst als allenfalls skurrile Nebenfigur ignoriert, gilt er heute völlig verdient als einer der ganz Großen des Spätbarock. Bernius und der Kammerchor leisteten mit ihren grandiosen Aufnahmen von Zelenkas späten Messen früher als andere einen gewichtigen Beitrag zu dieser Erkenntnis: Pointiert und voller Elan werden hier die rhythmische Energie, die eigenwillige Idiomatik, die großformatige Chor-Sinfonik des Meisters mit aller Bravour und prägnantem Feinschliff entfesselt. Beim diesjährigen Festival „Stuttgart Barock“ haben die Interpreten nachgelegt: mit einer brillanten Aufführung von Zelenkas Missa Sancti Josephi (und der phänomenalen Julia Lezhneva in den Sopransoli). Die CD-Aufnahme ist soeben erschienen.

Martin Mezger
30.11.2018

Martin Mezger (*1959) ist als Musikkritiker sowie Kulturredakteur der Esslinger Zeitung tätig. Als Rezensent arbeitet er für verschiedene Musikfach-Magazine und ist Mitglied der Jury Chormusik beim Preis der deutschen Schallplattenkritik.

Der ungekürzte Beitrag ist im November 2018 in der Jubiläumsschrift „50 Jahre Kammerchor Stuttgart“, S. 4-8, erschienen.