Knabenchor Hannover: Konzertreise nach China Drucken

Begeisterungsfähigkeit der Smartphonegeneration

Thumbnail imageSieben Konzerte in sechs der bedeutendsten Konzerthallen Chinas in zwei Wochen – Schlagzahlen, die ein Ensemble der alten Musik in Deutschland selten so oft am Stück schafft. In China erfreut sich abendländisch klassische Musik großer Beliebtheit und allein die Tatsache, dass wir Europäer sind, reichte aus, dass wir allenthalben Aufsehen erregten. Angepasst an örtliche Vorgaben und Vorlieben präsentierte der „Knabenchor Hannover“ ein Potpourri aus größtenteils zeitgenössischen Stücken, teils aus dem Bereich der Popmusik.

Ob dem chinesischen Publikum bewusst war, dass ihm mit Bob Chilcotts „Jazz Mass“ eine komplette Messe dargeboten wurde, wissen wir nicht. Ein Faktor bei der Programmzusammenstellung ist gewesen, dass deutlich erkennbar geistliche Werke nicht aufgeführt werden dürfen. In jedem Fall kam das Programm durchweg gut an: Von den kurzen Klatsch-Einlagen darf man sich nicht täuschen lassen, das ist in China üblich. Am Applaus ließ sich durchaus ablesen, wie gut und spannungsvoll das Konzert gelungen ist; das Publikum spürt so etwas unabhängig davon, ob es der gesungenen Sprache mächtig ist. Ein Auftritt, der sich kurzfristig als Kinder- und Familienkonzert herausstellte, konnte nachhaltig die Aufmerksamkeit auch der kleinen Zuhörer erreichen.

Thumbnail imageDie hervorgerufene Begeisterung ließ sich allein schon an den stets gut besuchten Autogramm- und Fotostunden nach den Konzerten bemessen. Ein jeder von uns konnte sich wie ein kleiner Prominenter fühlen, wenn er von kichernden Chinesinnen artig um ein Bild gebeten wurde. Sicher bestehen nun etliche Profilbilder in den chinesischen sozialen Netzwerken aus einem „Selfie“ mit Sängern unseres Chores. Diese massenhafte Anwendung digitaler Geräte hat neben der grundsätzlichen Smartphone-Affinität der Chinesen auch mit dem im Vergleich zu Deutschland niedrigeren Altersdurchschnitt der Konzertbesucher zu tun. Zudem fiel beim Blick ins Publikum schnell auf, dass man sich in China erheblich legerer zu solch einem Anlass kleidet als in Deutschland. So war der einzige Krawattenträger im Publikum bspw. in Guangzhou der deutsche Generalkonsul. Zur erwähnten Freizeitkleidung passen auch Verhaltensweisen, die hierzulande entrüstete Blicke und energisches Zischen hervorrufen würden: unterhalten, telefonieren, essen, schlafen: Das alles geht in China und sollte nicht als respektlos den Künstlern gegenüber missverstanden werden. Alles in allem erschien das chinesische Publikum jedoch etwas ruhiger, als wir es bei unserer ersten Chinareise im Jahre 2010 erlebt hatten. Eine Konstante konnten wir ausmachen: unser erstes „Groupie“ – ein Chinese, der nach dem ersten Konzert so angetan war, dass er uns durch das ganze Land folgte.

Nicht nur bei den Autogrammstunden, sondern auch während der Auftritte wurde zum Missfallen des permanent präsenten Aufsichtspersonals fleißig versucht zu fotografieren und zu filmen. Derartige Versuche wurden jedoch zumeist durch unerschrockenen Technikeinsatz im Keim erstickt: Kaum war die Kamera gezückt, richteten die Saalbeobachter ihre Laserpointer auf die Person, um diese zu ermahnen und das Foto zu stören. Alternativ eilte Saalpersonal mit großen leuchtenden Verbotsschildern, die wir nur vom Spielfeldrand in der Bundesliga kennen, zum „Täter“. Ein recht aufregendes Versteckspiel, das aber wohl weniger ernst ist, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Dass die Hallen teilweise längst nicht ausverkauft waren, muss in Relation zu deren Fassungsvermögen von zwischen knapp tausend und gut zweitausend Sitzplätzen betrachtet werden.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Konzerte besonders gelangen, die einem nicht allzu straff durchgeplanten Tag folgten. Denn es hat sich als wichtig erwiesen, den Anstrengungen einer solchen Reise und den dauerhaften Reizen, denen alle ausgesetzt sind, auch längere Ruhephasen entgegenzusetzen.

Im Rückblick war es eine intensive Konzertreise in ein Land, in dem westliche Musik auf freudiges Interesse stößt. Vielleicht auch, weil die chinesische Bevölkerung im Rahmen der wirtschaftlichen Aufholjagd zu den Industrienationen mit westlicher Lebensart viel Positives assoziiert und diese adaptiert. Vor Ort erlebt man ein interessantes Spannungsfeld zwischen starkem Wirtschaftswachstum und alter chinesischer Kultur, wobei Letztere zur Aufrechterhaltung des Ersteren fast immer das Nachsehen hat.

Julian Drake, Tenor, Chormitglied des Knabenchores Hannover
29.09.2015