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Ekkehard Klemm: "Wir arbeiten alle derzeit mit dem Prinzip Hoffnung" Drucken E-Mail

Kunst und Kultur ist nicht systemrelevant, aber lebensnotwendig – ein Zwischenruf.

Es ist in diesen Tagen der "Coronakrise" viel von systemrelevanten Berufen und lebensnotwendigen Institutionen oder Betrieben die Rede. Niemand zweifelt daran, auch nicht die Kunst- und Kulturschaffenden, dass medizinische Berufe, die Herstellung und der Vertrieb von Lebensmitteln, (vielleicht sogar von Toilettenpapier), die Aufrechterhaltung grundlegender Verkehrsströme und der IT-Infrastruktur vor dem Hintergrund befürchteter Gefahren für Leib und Leben großer Teile der Bevölkerung wichtiger sind als das gemeinsame Erlebnis eines Fußballspiels oder der Matthäus-Passion. Dennoch steht zu befürchten, dass diese Einschätzung dazu führen könnte, die Bedeutung beispielsweise der Musik und des gemeinsamen Musizierens zurückzustufen auf das, was sie nicht einmal zu Beginn ihrer Entstehung war: reines Vergnügen, ein nicht lebensnotwendiger Zeitvertreib, Unterhaltung.

"Kunst", sagt der österreichische Dirigent Hans Swarowsky, "ist wesenhafte Darstellung des sinnlich und geistig Wahrnehmbaren in formaler Konzentration". Diese Definition mag zu diskutieren sein, verweist aber auf die Dinge, die den Menschen - ganz allgemein gesprochen - ausmachen: Nachdenken, Vergleichen, Urteilen, Entscheiden. Die ihn zum Darstellen von Wesenheiten und zur Herstellung einer formalen Konzentration befähigen, vor allem in der Gesamtheit der dazu notwendigen Wahrnehmung, Kommunikation, künstlerischen Leistung und Wiedergabe. Wenn es am Menschen etwas Positives gibt, dann ist es seine Fähigkeit zu Inspiration, Empathie, künstlerischer Tätigkeit, zu wissenschaftlichem und philosophischem Denken und Forschen.

Der Verband Deutscher KonzertChöre VDKC hat in diesen Tagen eine Umfrage bei seinen Chören gemacht zu ihrer gegenwärtigen Situation, zu Problemen der Arbeit, der Finanzen, der Existenz in Zeiten von Covid-19. Tenor der über 50 Statements aus allen Landesteilen: "Wir arbeiten alle derzeit mit dem Prinzip Hoffnung".

Noch sind die Auswirkungen überschaubar und im günstigsten Fall auszugleichen. Doch die Gefahr einer Pandemie der Insolvenz künstlerischer Arbeit lässt sich mit jedem Tag verlängerter Beschränkungen absehen. Abgesagte Konzerte, ausgefallene Honorare, befürchtete Vertragsstrafen für Mieten und bereits eingeforderte von Verlagen, entgangene Einnahmen, nicht realisierbare Projektanträge, in Frage gestellte oder noch nicht bearbeitete institutionelle Förderungen, ausbleibende Sponsoringgelder, vielleicht sogar Austritte aus den Vereinen wegen Zahlungsunfähigkeit einzelner Mitglieder oder fehlender Gegenleistungen - die düsteren Wolken verdichten sich.

Besonders betroffen sind - wie schon vielfach festgestellt in diesen Tagen - die freischaffenden Musikerinnen und Musiker, auch Chorleiterinnen und Chorleiter. Wie lange deren Existenz durch Hilfs- und Sonderprogramme gesichert werden kann, steht dahin, besonders dann, wenn eine Diskussion um ihre Notwendigkeit entbrennt.

Als Hochschullehrer füge ich hinzu: Auch die Situation der Studierenden ist katastrophal, von existenzieller Unsicherheit und vielerorts auch materieller Not geprägt. Eine Videokonferenz mit 16 Dirigierprofessoren aus 15 Musikhochschulen ergab das eindeutige Bild: Es naht ein Desaster. Alle Studierenden, die sich in dieser Zeit diesem Beruf verschreiben wollten, fragen sich, ob sie bei ihrer Studienentscheidung noch ganz bei Trost waren, wenn bei einer solchen Krise gleich die Frage gestellt wird, ob sie jemals für die Gesellschaft gebraucht werden.

Das Prinzip Hoffnung stirbt vor allem dann, wenn wir Menschen unser Tun als relevant und weniger relevant, als systemerhaltend oder 'nur' dem Vergnügen dienlich einteilen. Die Sehnsucht nach der gemeinsamen künstlerischen Arbeit, nach der Begegnung zu Proben und Konzerten, der Kommunikation untereinander und zum Publikum ist bei allen Aussagen virulent. Begriffe wie Angst und Sorgen werden lauter, und es wird die bange Frage gestellt, was nach der Epidemie zurückbleibt. Welche Auswirkungen werden die erlittenen Erfahrungen auf das Medium Musik auch als Ort der Zusammenkunft von Menschen haben?

Der Fortbestand der Chöre wird vielfach bedroht gesehen - ein Befund, den wir mühelos auf Instrumentalensembles und Orchester ausdehnen können. Das gilt vom engagierten Laienensemble über das Freiburger Barockorchester, das Ensemble Modern bis hin zu den vielen Theatern und Orchestern, die wir in den zurückliegenden Jahren zielstrebig privatisiert und zu GmbHs umstrukturiert haben. Sie alle sind aufs Höchste gefährdet und können im Handumdrehen schneller insolvent sein, als wir "Coronakrise" sagen können, auch wenn die Kulturstaatsministerin nach neuesten Informationen Verluste nur in Grenzen sieht, sich über eine Welle der Hilfsbereitschaft freut und mit viel Engagement entsprechende Unterstützungen auf den Weg gebracht hat. Das macht Mut, aber wir stehen noch ganz am Anfang des Weges.

Die Leibniz-Gemeinschaft ist uneingeschränkt zu verstehen mit ihrem am 27. März veröffentlichten Aufruf "Systemrelevant und wenig anerkannt". Sie beklagt, dass die Berufe lebensnotwendiger Bereiche von Gesellschaft und Politik schlecht anerkannt, unterdurchschnittlich bezahlt und überwiegend von Frauen ausgeübt werden. Jedoch sollten wir wachsam sein beim Lesen des folgenden Satzes: "Die Erkenntnis, dass unsere Gesellschaft auf das Ausüben bestimmter Berufe mehr angewiesen ist als auf andere, scheint vor allem in Krisenzeiten besonders präsent."

Unsere Gesellschaft? Eher: Das Überleben im medizinischen oder biologischen Sinne ist auf diese Berufe angewiesen. Ja und uneingeschränkt. Die Gesellschaft als menschliche Gemeinschaft jedoch bedarf auch der Kunst, Kultur, Religion und natürlich des Sports als systemrelevante und lebensnotwendige Bestandteile ihrer Existenz - ja, sie sind das, was unserem Überleben seinen eigentlichen Sinn verleiht.

Notwendiger denn je scheint der solidarische Gedanke, sorgen wir dafür, dass die aktuelle Diskussion nicht dazu führt, den Pfarrer, Philosophen und Musiker als im Prinzip entbehrlich einzustufen.

Man mag einwenden: Das hat doch niemand gesagt. Aber nahen erst wirkliche Verwerfungen, die ja längst abzusehen sind, droht schnell genau der Kahlschlag, den Kulturstaatsministerin Grütters noch nicht erkennen kann. Den können wir auch verhindern, indem wir unsere Argumente und Begriffe sorgsam wählen. Gerade dann, wenn es um die Substanz dessen geht, was wir zum Leben brauchen.

Die Musiker der MET in New York sind bereits ohne Lohn freigestellt: "Wer nicht gebraucht wird, fliegt", meldet der Spiegel aus den USA. Das ist das Denken der Systemrelevanz.

Arbeiten wir also weiter mit dem Prinzip Hoffnung!

VKDC, Ekkehard Klemm
06.04.2020