Quelle von Freude und Glück: Bundespräsident Steinmeier erklärt, was Musikmachen bewirkt Drucken

Rede im Rahmen der Verleihung der Zelter-Plakette am 11. März 2018 in Bad Homburg

Thumbnail imageIn einem Festakt im Rahmen der Tage der Chor-  und Orchestermusik hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 11. März 2018 in Bad Homburg den Winkeler Frauenchor für sein 100-jähriges musikalisches Wirken ausgezeichnet und ihm die Zelter-Plakette überreicht. Die Zeremonie erfolgte stellvertretend für 39 weitere Chöre aus der ganzen Bundesrepublik, die im Laufe des Jahres auf Landesebene ihre Auszeichnungen erhalten werden.

So durfte sich aus den Reihen der Mitgliedschöre des Verbandes Deutscher KonzertChöre (VDKC) der Bielefelder Oratorienchor über die höchste Auszeichnung für Amateurchöre in Deutschland freuen, die im Rahmen der landeszentralen Verleihungsveranstaltung in Nordrhein-Westfalen am 27. Mai 2018 im Alten Rathaus in Soest überreicht wurde. Der VDKC gratuliert herzlich dazu.

Thumbnail imageStellvertretend für den Oratorienchor der Stadt Bielefeld nahmen Rosemarie Pflieger als Ehrenmitglied, Monika Güse als 2. Vorsitzende und der Künstlerische Leiter Hagen Enke die Auszeichnung entgegen. Sie wurde von Thomas Baerens, Ministerialrat und Leiter des Musikreferates im Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW, überreicht.

Namensgeber der alljährlich vom Bundespräsidenten verliehenen Auszeichnung ist der deutsche Musiker, Komponist und Dirigent Carl Friedrich Zelter. Er war mit Johann Wolfgang von Goethe persönlich befreundet und prägte das musikalische Leben in Berlin wie kein anderer. Als Gründervater der staatlichen Musikpflege in Preußen und langjähriger Direktor der Sing-Akademie zu Berlin erwarb er sich große Verdienste, auch bei der Erhaltung des deutschen Volksliedes. So komponierte er unter anderem die sehr bekannte Melodie des deutschen Scherzliedes „Der Kuckuck und der Esel“. 

Bundespräsident Steinmeier stellte in seiner Ansprache bei der Verleihung der Zelter- und Pro Musica-Plaketten v.a. das Verbindende der Musik in den Mittelpunkt, unterstrich den sinn- und heimatstiftenden Charakter von Musik und hob Musik als Erinnerungsspeicher hervor:

„Ein so schöner Saal, voll besetzt, mit gut gelaunten, singenden, musizierenden Menschen! Eine so fröhliche Veranstaltung habe ich seit dem Tag der Bundestagswahl im letzten September selten gehabt.

Ich danke Ihnen für die Einladung und gratuliere allen, die heute und im Verlaufe dieses Jahres noch ausgezeichnet werden, ganz herzlich. Und reden darf ich auch noch. Das ist schön, das ist eine Ehre, obwohl ich beim Blick in Ihre Satzungen und Regularien dann nach und nach Zweifel bekam, ob ich hier überhaupt ein satisfaktionsfähiger Festredner sein kann. Ich, gerade einmal ein Jahr im Amt, überreiche eine Auszeichnung für die Sie mindestens 100 Jahre erbrachte Leistungen nachweisen müssen.

Die Zelter- und die PRO-MUSICA-Plaketten, die wir heute verleihen werden, stehen Chören und Musikvereinigungen, frühestens anlässlich ihres 100-jährigen Bestehens zu, so heißt es da, wenn sie – „den Nachweis erbracht haben, sich in ernster und erfolgreicher musikalischer Arbeit der Pflege der vokalen oder instrumentalen Musik gewidmet und im Rahmen der örtlich gegebenen Verhältnisse künstlerische Verdienste oder Verdienste um die musikalische Bildung erworben zu haben.“ Das hätte kein Jurist schöner formulieren können. Und Loriot hätte seinen Spaß daran.

Meine Damen und Herren, was Sie selbst tun und was Ihre Vorgängerinnen und Vorgänger in Chören und Orchestern in vielen Jahrzehnten getan haben, das passt eben nicht zwischen Aktendeckel. Und in Worte zu fassen, was die Musik den Menschen tatsächlich bedeutet, das ist selten geglückt! Warum macht uns die Beschäftigung mit Musik glücklich? Oder nachdenklich? Warum tröstet sie uns, warum richtet sie uns gelegentlich auf? Warum gewinnt fast alles, was wir erleben, an Intensität, wenn wir Musik hören – noch viel mehr aber, wenn wir Musik machen?

Musik verbindet, heißt es. Aber warum? Jedes Instrument kann auch für sich allein gespielt werden und mancher singt vielleicht lieber solo unter der Dusche oder sitzt am Klavier, lieber als im Chor, Orchester oder in der Blaskapelle.

Was Menschen verbindet, die gemeinsam Musik machen, das hat der wunderbare Daniel Barenboim einmal so erklärt: In seinem West-Eastern Divan Orchestra sitzen Israelis, Palästinenser, Libanesen und Syrer nebeneinander. Und in ihrer täglichen Realität können sie Gegner sein, vielleicht sogar die furchtbarsten Erfahrungen miteinander gemacht haben. Machen sie aber gemeinsam Musik, so spüren sie, dass sie eins sind, dass ihr Sitznachbar ebenso wie sie selbst, Teil eines Ganzen, eines Größeren, ist, zu dem man wird, wenn man gemeinsam Musik macht.

Thumbnail imageIch will das gemeinsame Musizieren mit diesem Beispiel nicht überhöhen. Es weht auch nicht jeden, der nach Feierabend im Chor singt oder die Tuba bläst, gleich der göttliche Atem an. Aber wenn ein Stück Musik nach langen Proben gelingt, dann stellt sich eben dieses Gefühl von Einheit wohl ein, das Empfinden, teilzuhaben an einer sinnvollen Ordnung, teilzuhaben an Gemeinschaft. Und daraus – wenn’s gut geht – entsteht etwas, das den meisten Menschen ein Grundbedürfnis ist: Harmonie nämlich. Und das ist mehr als ein gutes Gefühl – das ist eine Quelle von Freude und Glück!

Und wer nach dem Grund fragt, warum in diesem Land mehr als zwei Millionen Menschen in Chören singen und knapp 1,5 Millionen in Laien-Orchestern musizieren – diese Erfahrung gehört zu den möglichen Antworten, dieses Empfinden von Freude und Glück.

Es ist mehr als eine flüchtige Emotion. Man nimmt etwas mit, die Ahnung, dass Miteinander möglich ist, ein Gefühl der Zugehörigkeit, ein Heimatgefühl. Ich erinnere mich, wie mir meine Mutter immer wieder erzählt hat, dass ihr damals, als sie als Flüchtling aus Schlesien kam, das Singen im Frauenchor auf dem Dorf in Westfalen geholfen hat, in fremder Umgebung anzukommen, und dort Anerkennung und Heimat zu finden. Eine Erfahrung, die jetzt im Augenblick vielleicht wieder viele machen, die als Flüchtlinge zu uns gekommen sind und die dann den Weg zum Chorgesang oder gemeinsamen Musizieren irgendwo in Deutschland finden.

Musiziert wird überall und auf ganz unterschiedliche Weise. Wir musizieren in einer Blaskapelle, wie sie im Musikverein Viktoria 08 Ober-Roden zusammengeschlossen sind, oder singen im Winkeler Frauenchor, und wissen, dass haben unzählige andere vor uns auch schon getan. Es gab diese Kapelle und diesen Chor und viele andere vor uns und es wird sie nach uns geben. Es werden Lieder gesungen, die vielleicht älter als 100 Jahre sind und die auch das nächste Jahrhundert mühelos überdauern werden. Sie gehören zu uns, diese Lieder, wie die nahe Bergkuppe, die wir aus dem Küchenfenster sehen oder der einzelstehende Baum in der Senke darunter.

Musik, sagt Kurt Tucholsky, das ist der Rhythmus einer Landschaft. Vertraute Umgebung. Heimat hat einen Klang, der ein Echo im Herzen erzeugt, und wer diese Heimatklänge aus dem Westen, dem Nahen und Fernen Osten kennt, der bekommt auch eine Ahnung davon, wie vielfältig sie sind. Wir lernen mit ihnen, einander zuzuhören.

Und schließlich, glaube ich, ist Musik auch so etwas, wie ein Erinnerungsspeicher. Sie verbindet uns mit der Vergangenheit. Wir erinnern uns an Melodien und Liedtexte noch im hohen Alter, selbst wenn vieles andere schon in Vergessenheit gerät. In der Musik ist es aufgehoben – Landschaften, Menschen, ein Gefühl für die Zeit, in der wir sie einmal gehört haben. Und möglicherweise kann sie uns gerade deshalb, mehr als sonst irgendetwas, dieses Aufgehobensein in einer Gemeinschaft vermitteln. Sie ist eine emotionale Mittlerin, unmittelbar und mitunter überwältigend. Das macht sie einzigartig – auch unter den Künsten.

Weil wir uns aber in aller Regel nicht spontan auf öffentlichen Plätzen versammeln, um gemeinsam zu musizieren, muss es Menschen geben, die diesem Tun, wenn man so sagen darf, einen Ort geben, Menschen, die die Noten verwalten, Auftritte organisieren, sich um den Nachwuchs kümmern, um die Finanzen, um die Förderer ebenso. Und ihnen zu danken, gehört zu den wichtigsten Anliegen der Zelter- und PRO-MUSICA-Plaketten. Denn es geht ja nicht allein darum, gemeinsam Musik zu machen. Es geht auch darum, sie zu Gehör zu bringen.

Und das wäre ohne die vielen Ehrenamtlichen, die sich um Organisation und Administration kümmern, nicht zu machen. Ich bin den Initiatoren dieser Auszeichnung, meinen Amtsvorgängern Theodor Heuss und Heinrich Lübke, dankbar für diese Idee. Aber heute gilt mein Dank vor allen Ihnen, liebe Chorsänger und Chorsängerinnen, Orchestermusikerinnen, Orchestermusiker, für Ihr Engagement, oder besser noch, für Ihre Musik. Herzlichen Dank!“

BDC/BDO, Oratorienchor Bielefeld, VDKC
Quelle Rede: www.bundespräsident.de
13.04./22.06.2018