Empfehlung: Franz Schuberts Kantate Mirjams Siegesgesang op. 136 Drucken

Gelungene Symbiose von „kräftigem Ernst eines Händel mit Beethovens Feuergeist“

Thumbnail imageDa nahm Mirjam, die Prophetin, Aarons Schwester, eine Pauke in ihre Hand, und alle Frauen folgten ihr nach mit Pauken im Reigen. Und Mirjam sang ihnen vor: Lasst uns dem Herrn singen, denn er ist hoch erhaben; Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt. (2. Moses 15, 20 -21.)

Es war am im Februar 2009. Howard Arman probierte in der Musikakademie Sondershausen mit tatendurstigen VDKC-Choristen für die „Händel-Celebration“ in Halle das „Dettinger Te Deum“. Als Ergänzung war das achtstimmige Finale von Händels Oratorium „Israel in Ägypten“ vorgesehen, ein wildbewegter Jubel über den geglückten Durchzug der Israeliten durch das Rote Meer. „Kennen Sie Mirjams Siegesgesang von Franz Schubert? Wie? Das kennen Sie nicht?“ Und dann holte er aus, das interessante, spannende Werk den Anwesenden schmackhaft zu machen. Howard Arman formulierte ein derart begeistertes Plädoyer für die „Mirjam“, dass mancher sich geradezu bei einer Unterlassungssünde ertappt fühlen musste, „Mirjams Siegesgesang“ weder zur Kenntnis genommen, noch zur Aufführung gebracht zu haben.

Franz Schubert Kantate Mirjams Siegesgesang op. 136 auf einen Text von Franz Grillparzer (1791-1872) entstand im März seines Todesjahres 1828 und ist geschrieben für Sopran, Chor (SATB) und Klavier. Etwa 18 Minuten benötigt man für die 486 Takte, sie sind durchkomponiert und lassen sich in sechs Abschnitte gliedern. Grundlage des Textes ist der Bericht im 2. Buch Moses (Kap. 15) von der Errettung des Volkes Israel vor der Verfolgung durch die Ägypter. Die Komposition, ein kleines Oratorium, erlebte die Uraufführung posthum, im Rahmen eines Gedächtniskonzertes im Januar 1829. Zeitgenossen empfanden eine Verbindung von „kräftigem Ernst eines Händel mit Beethovens Feuergeist“.

Tatsächlich wird Schuberts Beschäftigung mit Händels Oratorien im Frühjahr 1828 mit den ersten Takten sogleich spürbar. Der siegesgewisse Jubel der Moses-Schwester umschließt drei stark kontrastierende Abschnitte. Eher pastoral-idyllisch und mit schönen Melodien hebt der zweite Teil an, der dann skurrile Momente bereithält: „Scheu des Meeres Ungetüme schaun durch die kristallne Wand“. Packend und äußerst dramatisch wird natürlich ausgemalt, wenn der Wasserturm einstürzt und Ross und Reiter zerbricht und begräbt. Beklemmend hernach ist der fahle, etwas schadenfrohe Grabgesang auf den Pharao im 5. Teil. Den eindrucksvollen Abschluss bildet eine großangelegte Fuge.

Schon die allerersten Takte mit ihren barock-festlichen punktierten Rhythmen verlangen geradezu nach orchestraler Pracht. Schubert selbst soll eine Orchesterbearbeitung beabsichtigt haben, konnte sie aber nicht mehr realisieren. Franz Lachners (1803-1890) Orchestrierung, die am 30. März 1830 in Wien erstmals zu hören war, entspricht in ihrer Besetzung derjenigen der beiden späten Schubert-Sinfonien, der „Unvollendeten“ und der „Großen“ in C-Dur. Kein Zweifel: Sie steht dem Tonfall des späten Schubert hörbar nahe.  Der Wagner-Experte Felix Mottl (1856-1911) dagegen hat sich die Prophetin durch die Wagner-Brille angesehen und sie in eine üppige orchestrale Rüstung gehüllt, die dann eher nach Brünnhilde als nach Mirjam klingt.  Er fügt den zwei Hörnern zwei weitere hinzu, ergänzt zu den drei Posaunen die Tuba, und wenn Mirjam ekstatisch anstimmt „Rührt die Saiten“, dann melden sich im Orchester sogar Harfe, Becken und Triangel. Mottls wirkungsvolle Einrichtung ist bei Breitkopf als Leihmaterial zu haben, diese Fassung erklang übrigens bei den Chorkonzerttagen unseres Verbandes im Jahre 1987 in Neuss. Die Bearbeitung durch Franz Lachner wurde erstmals bei Senff in Leipzig 1873 im Druck veröffentlicht.

Thumbnail imageAuf Youtube findet sich derzeit auch eine Orchester-Version mit Frauenchor von Nelly Li Puma, ausgeführt Chor und Orchester der Wiener Universität. Im Hinblick auf die biblische Erzählung von Mirjam und allen Gefährtinnen macht eine Chorfassung nur mit Frauenchor durchaus Sinn, doch stößt das bei den polyphonen Partien doch rasch an die Grenzen. Und so gibt es in der strapaziösen Schlussfuge einen saftigen Sprung von gut 40 Takten. Diese Einrichtung ist etwas farbenreicher als die Partitur von Lachner, auffallend ist der umfangreiche Einsatz des würdigen Blechs beim Grabgesang auf den Pharao.

Die sehr umfangreiche Solopartie der Sopranistin ist äußerst anspruchsvoll und verlangt neben Durchhaltevermögen und gestalterischer Vielseitigkeit einen weiten Stimmumfang vom tiefen Ais in der Großen Oktave bis zum dreigestrichenen hohen C. Kurioserweise wurde dieses Solo bei der Premiere in Ermangelung eines tüchtigen Soprans von einem Tenor gesungen. Das hintere Ende der Kantate, die Schlussfuge, geht beim Chor ordentlich auf die Stimmbänder, vor allem Soprane ohne Höhenangst und Bässe werden einem Härtetest unterzogen. Ich hörte eine Aufführung der Orchesterfassung in Süddeutschland, an deren Ende die begeisterte Zuhörerschaft eine Zugabe erklatschen wollte, doch der Dirigent winkte ab: „Mehr Zugabe geht nicht.“

Die Originalfassung mit Klavier ist bei Carus (CV 40.287) und bei Breitkopf (EB 1051) zu haben. Nur noch antiquarisch findet man die Ausgabe des niederländischen Harmonia-Verlags. Doch auch die Orchester-Versionen sind zugänglich. Die gewichtige, farbenreiche Version von Felix Mottl kann man bei Breitkopf mieten, die Lachner-Fassung findet man u.a. bei IMSLP (International Music Score Library Project/Petrucci Music Library) im Internet. Burkhard Pflomm, Dekanatskantor an St. Stephan in Lindau, hat aus der Partitur das komplette Orchester-Material der Lachner-Fassung erstellt und bietet dies interessierten Kollegen bereitwillig zur Aufführung an (Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist gegen Spambots geschützt! JavaScript muss aktiviert werden, damit sie angezeigt werden kann. ).

Aus liturgischer Sicht passt die Kantate über den Exodus in die Osterzeit. Bevor in den katholischen Osternachfeiern der Oster-Jubel angestimmt werden darf, sind sieben Lesungen aus dem Alten Testament vorgesehen, unerlässlich ist deren dritte, die vom Auszug Israels aus Ägypten berichtet.

Eine schöne Koppelungsmöglichkeit in einem Konzertprogramm dürfte eine der Psalm-Vertonungen von Felix Mendelssohn Bartholdy sein, zum Beispiel der Psalm 95 „Kommt lasst uns anbeten“.

Theo Römer
02.12.2020

Abbildungen: Ephraim Moshe Lilien (1874–1925): Mirjam, spätes 19./frühes 20. Jhd. (Wikimedia Commons) | Josef Gänsbacher, Eusebius Mandyczewski (Hrsg.): Franz Schubert's Werke, Serie XVII, Breitkopf & Härtel, Leipzig 1892: Mirjam’s Siegesgesang, Partitur 1. Seite (IMSLP)