Sergej Rachmaninoff: „Die Glocken“ (Kolokola) Drucken

Ein selten aufgeführtes Meisterwerk

Thumbnail imageBeim Deutschen Chorfestival des Verbandes Deutscher KonzertChöre 2008 in Kassel erklang dieses Werk – sicher für viele Hörer als ein Novum – in einer überzeugenden Wiedergabe durch den Hamburger Franz-Schubert-Chor unter Michael Petermann.

Die 1913 entstandene Kantate für Chor, großes Orchester und drei Solisten (Sopran, Tenor und Bass) betrachtete Rachmaninoff neben seinem „Abend- und Morgengebet“ als sein gelungenstes Werk. Es ist überhaupt die erste wesentliche russische Komposition dieser Gattung. Das rührt natürlich zum Teil daher, dass die vom orthodoxen Ritus her bestimmte russische Chormusik bis dahin hauptsächlich a-cappella erklungen ist.

Rachmaninoff wurde durch das von Konstantin Balmont ziemlich frei ins Russische übertragene Gedicht „The Bells“ von Edgar Allen Poe angeregt, dieses chorsymphonische Werk zu schaffen. In den vier Strophen von Poes Gedicht wird nacheinander der Klang von Schlitten- und Hochzeitsglocken, von Feuer- und Totenglocke bilderreich poetisch dargestellt. Der Komponist hat den Text entsprechend in vier Sätzen vertont, in denen er die jeweiligen höchst unterschiedlichen Stimmungen meisterhaft zum Klingen bringt. Ein großbesetztes Orchester bildet das klangliche Fundament. In kompositorischer Meisterschaft und faszinierender Instrumentationskunst wird das Erleben von Glockentönen nuancenreich dargestellt.

Durch Fanny B. Copeland ist Balmonts Text ins Englische rückübersetzt worden, um die Aufführbarkeit in westlichen Ländern zu erleichtern. Er entspricht natürlich großenteils nur dem Sinne nach dem Poeschen Original, was aber der Wirkung des Werks keinerlei Abbruch tut.

Der 1. Satz beginnt mit dem Läuten von Schlittenglöckchen, dargestellt durch Glockenspiel, Celesta, Triangel und glitzernden Streichertremoli. Dazu treten martellato-Motive der Bläser.

Der Solotenor setzt im pp mit einem langen Ruf: „Listen“ ein, den der Chor im ff aufnimmt. Mit farbigstem Instrumentenklang und ständig chromatisch sich wandelnden ostinat gestalteten Melodiebögen werden dann die pp beginnenden entzückten Achtelrufe des Chors zu den „silver bells“ untermalt. Plötzlich scheint der Chor mit gesummten Akkorden in den Schlaf zu sinken, bis er vom Tenor und vom Orchester zu neuen Begeisterungsrufen wachgerüttelt wird. Aber schließlich verfällt er bei einem Diminuendo erneut ins Träumen.

Thumbnail imageIm 2. Satz erklingen die Hochzeitsglocken. Nach zunächst lang gedehnten melodisch auf- und abschwellenden Triolen der tiefen Streicher setzt der Chor pp ein: „Hear the mellow wedding bells“. Der Solosopran gesellt sich mit chromatisch gefärbter Melodieführung dazu und besingt schwärmerisch die nächtliche Stimmung.

Der Satz endet mit den im Werk nur an dieser Stelle eingesetzten Röhrenglocken zu den schwingenden Rufen des Chors „Hark to the song of the bells!“.

Der 3. Satz beschreibt die Wirkung der Feuer- und Alarmglocke auf die Menschen. Über die ganze dynamische Skala und bis hin zum prestissimo werden die dramatischen Klangausbrüche des Orchesters und die Schreckens- oder Klagerufe des Chors „Hear the loud alarum bells!“ kontrastreich geführt, einmal wird vom Sopran sogar das ces´,,, verlangt! Die Harmonik wird in äußerster Härte bis an die Grenzen der Tonalität getrieben, wobei der Chor einen höchst anspruchsvollen Satz voller chromatischer Schritte zu bewältigen hat.

Im 4. Satz beginnt das Englischhorn mit melodisch elegischem Klagen, begleitet von synkopisch verschobenen düsteren Akkorden der geteilten Streicher. In monotonen Achteln setzen Solobariton und Chor mit den Worten „Hear the tolling of the mournful bells“ ein. Immer wieder wechseln Aufbäumen im Schmerz und Versinken in Trauer miteinander ab, Schließlich stimmen die Streicherbässe in Vierteln einen Trauermarsch in cis-Moll an, dessen Rhythmus der Chor summend aufnimmt, wozu der Bariton seine Schlussworte „save the quiet of the tomb“ singt.

Ein wunderbares Orchesternachspiel – melodisch und harmonisch an Wagners „Tristan“- oder „Götterdämmerungs“-Schluss erinnernd – überrascht  und entzückt am Ende den Hörer.

„Die Glocken“ gehören zu den in Deutschland sehr selten aufgeführten chorsymphonischen Werken. Das ist bedauerlich und sollte sich in Zukunft ändern. Also ein Appell an die großen Oratorienchöre, sich dieses Werkes anzunehmen! Es wird sicher zu einem unvergesslichen  Erlebnis für jeden guten Chorsänger werden

Die Besetzung des Werks erfordert ein sehr großes Orchester (3.Pic.3.EH.3.Bcl.3.Kfg. – 6.3.3.Tb Schlagzeug, Harfe und Celesta) und einen großen Chor mit gelegentlichen Stimmteilungen sowie die schon erwähnten Solisten Sopran-, Tenor- und Bariton-Solo.

Das Material ist bei Boosey & Hawkes leihweise und käuflich erhältlich. Der Text ist auf englisch und russisch (Original) unterlegt. Leider gibt es noch keine deutschsprachige Ausgabe.

Hans Gebhard
22.09.2014

Foto: Glockenwand der Sophienkathedrale in Weliki Nowgorod, die als Vorlage für "Die Glocken" diente. Das Foto entstand während einer Konzertreise des Philharmonischen Chores Nürnberg und des KölnChores im Juni 2014.